Psalm 46
1 Ein Lied der Korachiter, vorzusingen, nach der Weise »Junge Frauen«.
2 Gott ist unsre Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.
3 Darum fürchten wir uns nicht, wenngleich die Welt unterginge
und die Berge mitten ins Meer sänken,
4 wenngleich das Meer wütete und wallte
und von seinem Ungestüm die Berge einfielen. SELA.
5 Dennoch soll die Stadt Gottes fein lustig bleiben
mit ihren Brünnlein, da die heiligen Wohnungen des Höchsten sind.
6 Gott ist bei ihr drinnen, darum wird sie fest bleiben;
Gott hilft ihr früh am Morgen.
7 Die Völker müssen verzagen und die Königreiche fallen,
das Erdreich muss vergehen, wenn er sich hören lässt.
8 Der Herr Zebaoth ist mit uns,
der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.
9 Kommt her und schauet die Werke des Herrn,
der auf Erden solch ein Zerstören anrichtet,
10 der den Kriegen ein Ende macht in aller Welt,
der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt.
11 Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin!
Ich will mich erheben unter den Völkern, ich will mich erheben auf Erden.
12 Der Herr Zebaoth ist mit uns,
der Gott Jakobs ist unser Schutz. SELA.
Liebe Gemeinde!
Es ist ein Trostlied, das hier im Tempel von den Sängern angestimmt wird, ein Lied, das in aufwühlenden Zeiten Ruhe und Sicherheit vermitteln soll: Der Tempel steht, der Gottesdienst geht vonstatten, Jerusalem ist die erwählte Stadt Gottes mitten in seinem erwählten Volk. Wir kennen solche Lieder auch aus unserem Gesangbuch, wie Gott am Ende alles gut macht, seine Gläubigen schützt und bewahrt. Und es tut gut, solche Lieder zu singen - auch wenn und gerade wenn ringsum die Unsicherheit wächst. Es wäre dem Wesen der Kirche entgegen, nun auch noch in den Gottesdiensten die Hoffnung kleinzuhalten und so die allgemeine Hoffnungslosigkeit noch einmal zu verdoppeln. Nein, dieses Lied wurde den elementaren Bedrohungen des Lebens entgegengesetzt. Zu Anfang werden die widrigsten Naturgewalten in Erinnerung gerufen, Erdbeben und Flutwellen, um sich trotzdem nicht bange machen zu lassen: "Gott ist unsre Zuversicht und Stärke,
eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben." - dieser Satz steht voran, und soll sich immer wieder im Leben bewähren, auch in Schrecken und Zweifel: "Darum fürchten wir uns nicht". Im Singen, im Ritual des Tempelgottesdienstes wird diese Haltung eingeübt, verankert sich in der Wiederholung in der Tiefe des Glaubens. Er wird so krisenfest gemacht, auch gegen eine allgemeine Weltuntergangsstimmung.
Woher diese Gewissheit? Der Psalm gehört zu den Zionspsalmen. Er besingt die Schönheit und Dauerhaftigkeit des dem einzigen Gott gewidmeten Tempels und der Stadt ringsum. Die Nachkommen Davids herrschen in ihr, ihr Geschlecht soll immer bestehen, und der Tempel, dessen Platz David wählte und den Salomo erbauen ließ, war der weithin verehrte Mittelpunkt des Glaubens und des Kultes für Gott, den HERRN. Die Stadt, das Gotteshaus stand für das Ganze des Glaubens der Menschen in Judäa, war sprichwörtliches Machtzentrum und Orientierung als "Zion", so wie man vom Weißen Haus, dem Kreml oder dem Vatikan spricht. Dabei wurden die Gegebenheiten noch dichterisch übersteigert: Das reale Jerusalem hatte keinen Flusslauf in der Nähe, sondern nur eine dauernd wasserführende Quelle, und der Zionsberg ist auch deutlich bescheidener als andere Berge im Heiligen Land. Aber darauf kam es ja auch nicht an: Zion sollte nahe an das Paradies gerückt werden - wir kennen die Aufzählung der Paradiesströme im 2. Kapitel des 1. Buch Mose - ein solcher Ort soll Ruhe, Sicherheit, unangreifbaren Frieden ausstrahlen.
Aus dieser Vorstellung heraus ist dann auch der Angriff anderer Völker von vornherein vergeblich. "Der Herr Zebaoth ist mit uns, der Gott Jakobs ist unser Schutz" - zweimal wird dieser Satz wie ein Refrain, wie ein Mantra eingefügt. Es strahlt unerschütterliche, überzeitliche Gewissheit aus - Gott ist auf unserer Seite ...
Aber spätestens hier kommen Bedenken auf: Ist dies nicht zu richtig, zu gewiss? Wird aus Gott sozusagen ein Vollkasko-Versicherer, der für jeden Schaden, für politische wie menschliche Fehlleistungen unentwegt aufkommen muss? Entsteht so nicht eine falsche Sicherheit, die sich am Ort des Tempels festmacht anstatt an dem Gott, dessen Gebote dort verwahrt sind? Der Bund mit Gott ist doch auf Gegenseitigkeit geschlossen, und bestimmte moralisch-ethische Standards - die zehn Gebote geben die Richtung an - gehören unbedingt dazu, mag die äußerliche Frömmigkeit noch so vollkommen wirken. Dies war ja auch ein Kritikpunkt, der Luther zum Reformator machte: eine verdinglichte Frömmigkeit, die sich auf Ablässe, Heiligenlegenden und Religion bezog, dabei aber Christus aus dem Blick verloren hatte.
Auch der Psalm 46 hat sich solche Kritik gefallen lassen müssen. Ein Abschnitt im Kapitel 3 des Propheten Micha klingt wie eine prophetische Zurechtweisung einer solchen zeitlosen Heilsgewissheit. Die Häupter des Volkes werden angegriffen, weil sie Zion mit Blut bauen und Jerusalem mit Unrecht - wie wurden wohl die Bauarbeiter behandelt? - Richter und sogar Propheten sind korrupt, und all dies geschieht unter dem Deckmantel der göttlichen Zusage: "Ist nicht der HERR unter uns? Es kann kein Unglück über uns kommen." Diese übersteigerten Selbstgewissheit tritt der Prophet mit seinem Urteil entgegen: Jerusalem wird zerstört, der Tempel verwüstet werden.
Dass es so gekommen ist, wissen wir aus der Geschichte. Hat damit Micha recht und der Psalm unrecht? Immerhin - er wurde nicht aus der biblischen Sammlung entfernt. Glaubensgewissheit ist in solch unruhigen Zeiten nötig und wichtig, allerdings verbunden mit der Erkenntnis, dass Unrecht, Unterdrückung und Korruption dabei nicht geduldet sind. Und das missverständliche und so oft schon missbrauchte "Gott ist mit uns" zielt nicht auf Sieg, sondern auf die göttliche Abschaffung der Kriege überhaupt. Es mag merkwürdig klingen in einer Zeit, wo Gewaltherrschern anscheinend nur durch Gegengewalt und Aufrüstung beizukommen ist, dass hier Gott die Kriegswaffen unbrauchbar macht und zerstört - hin zu einem generellen Verzicht auf Waffen und Gewalt, einer Welt ohne Angst. Es bleibt dann nur noch, den Frieden zu wahren und zu pflegen. Vielleicht ist erst dann der unverstellte, umfassende Zugang zu Gott möglich, denn der nächste Vers lautet: Seid stille und erkennet, dass ich Gott bin! Solch eine Stille ist nicht Passivität, sondern angestrengtes Suchen und Harren auf den, der sich erhebt und zeigt, im eigenen und in allen Völkern, den Frieden stiftend auf der ganzen Erde. Und hier knüpft Micha, nach seiner vernichtenden Kritik, mit einer positiven Vision an: In den letzten Tagen ist der Zionsberg hoch erhoben - dichterisch mythische Ausdrucksweise wie im Psalm -, die Völker kommen nicht angreifend, sondern pilgernd dorthin, und die Schwerter werden umgeschmiedet zu Pflugscharen und die Spieße zu Sicheln, "und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen."